Kindergeschichte: Vom Bergzwerg, der Angst vor Gewitter hatte
Es war einmal ein kleiner Bergzwerg, der hatte ein großes Problem: Er hatte Angst vor Gewitter. Leider gewitterte es da, wo er wohnte, sehr sehr oft. Sobald er das Gegrummel in seiner gemütlichen Berggrotte im Toggenburger Land hörte, wurde er steif wie ein Felsbrocken, machte ein bisschen Pippi in die Hose und seine rote Zipfelmütze begann zu flattern wie ein wildes Fähnlein im Wind. Er hatte schon alle möglichen Dinge ausprobiert, um seine Angst in den Griff zu bekommen: Bergkräutertees, Yoga, Fasten … alles umsonst.
Als es eines Abends so schlimm gewitterte, dass er nicht mal mehr Schwiizerdütsch sprechen konnte, beschloss er, dass es so nicht weitergehen kann. Er erinnerte sich an einen Zeitungsartikel im Toggenburger Tageblatt über die berühmt-berüchtigte Kobel-Hexe, die genau auf Probleme solcher Art spezialisiert war. Allerdings wusste niemand so recht, wo genau man die Hexe findet. Der Sage nach wohnte sie in einer Kristallhöhle mitten im Kobelwald, die so versteckt war, dass nur wenige Wesen sie bisher erreicht hatten. Und die, die es geschafft hatten, scheiterten kurz vor dem Ziel an einem geheimen Geheimwort, das man am Höhleneingang laut in die unterirdischen Berggänge rufen musste und das bisher niemand – aber auch wirklich niemand – geknackt hatte.
Dennoch glaubte der Bergzwerg an sein Glück und machte sich auf den Weg. Er packte in sein Säckli ein Stück Appenzeller Käse, ein Fläschli Bergwasser und ein paar Schweizer Franken. Die Sonne glühte vom Himmel, als er über Stock und über Steine an frechen Bergziegen, duftenden Bergblumen und rauschenden Bächlein entlang spazierte. Dabei richtete er sich immer nach den roten Wegmarkierungen, weil Rot seine Glücksfarbe war.
Als er irgendwann auf einer (selbstverständlich) roten Bank Rast machte, bemerkte er am Wegrand ein paar pausierende Fahrrad-Fahrer, die sich grad darüber unterhielten, dass sie Richtung Walensee fahren möchten. „Walensee klingt gut.“, dachte der Bergzwerg, denn Wale waren seine Glückstiere. Er schlüpfte also unbemerkt in einen der Fahrradanhänger und ließ sich schwuppsdiwupps ans Wasser chauffieren.
Dort angekommen war er erstmal etwas ratlos. Er war in einem kleinen Fischerdorf gelandet, wo die roten Wegmarkierungen aufhörten. Wie er da so grübelnd am Wasser stand, hörte er plötzlich eine leise Stimme: “Hey, pssst, schüttel mich, schüttel mich, meine Feigen sind alle reif.” Moment mal, das kannte der Bergzwerg doch aus einem anderen Märchen. In dem ging es zwar um Äpfel, aber er wusste, was zu tun war. Er schaute auf und erblickte ein kleines Feigenbäumchen, das er kräftig anfing zu schütteln. Dabei plumpste ihm eine Feige auf den Kopf, die ihn mit großen Kulleraugen anschaute und sprach: “Iss mich, dann bring ich dich übers Wasser.” Der Bergzwerg tat, wie ihm befohlen und konnte sein Glück kaum fassen: Wie der berühmte Mann aus der Bibel konnte er plötzlich über das Wasser laufen.
Auf der anderen Seite des Sees wartete schon eine Horde Schweine auf ihn. “Grüezi miteinand.”, sagte der kleine Bergzwerg. “Grüezi, oink oink.”, sagten die Schweine. “Der Walensee-Wind hat uns geflüstert, dass du eine Mitfahrgelegenheit brauchst. Spring auf, wir bringen dich zum Kobelwald. Und keine Angst, wir haben frisch geduscht.” Der Berzwerg tat, wie ihm befohlen, hüpfte auf den Rücken des größten Schweines und ritt von dannen. Ganz schön wackelig war es auf dem Schweine-Buckel, aber zum Glück konnte er sich an den großen Schweinsohren gut festhalten. An einem Waldrand hielten die Schweine plötzlich abrupt an und sagten: “Da sind wir, viel Glück, denk an das Lied.” Der Bergzwerg war verwirrt, doch ehe er noch weitere Fragen stellen konnten, waren sie schon davongaloppiert.
Ratlos stand er am Waldtor und wusste erneut nicht weiter. Dass man klingeln muss, wenn man jemanden besucht, war ihm klar, aber so eine komische Klingel hatte er wirklich noch nie gesehen. Seltsame Metallstäbe und ein Gummihammer, was hatte es damit nur auf sich? Er grübelte und grübelte, bis ihm plötzlich einfiel, dass die Schweine etwas von einem Lied gegrunzt hatten. Vielleicht musste er genau dieses Lied klingeln. Nur, was könnte das sein? Welches Lied mag die Kobel-Hexe wohl am liebsten? “Alle meine Entchen”, “Bruder Jakob”, “La Li Lu”? Der Bergzwerg probierte alle aus, aber die Tür öffnete sich einfach nicht. “Hach”, dachte er. Meine liebe Freundin Heidi wüsste jetzt bestimmt weiter. Sie singt doch immer so gerne. Wehmütig summte er leise vor sich hin: “Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge …”. Plötzlich begannen die komischen Stäbe wie wild zu klingeln. Der kleine Bergwerg konnte es kaum glauben. Hatte er das Lied etwa erraten? Und tatsächlich, als er die Melodie mit dem seltsamen Hammer spielte, öffnete sich das Tor und ein wunderschöner Märchenwald kam zum Vorschein.
Überall in dem Wald klingelte und summte und klirrte es. Der Bergzwerg beschloss, den Geräuschen zu folgen, denn scheinbar mochte die Kobel-Hexe Musik. Er musste fortan noch einige Hindernisse überwinden … Kuhglocken-Slalom, Klangrohre-Pusten, Riesen-Xylophon-Spielen … und das, um nur einige zu nennen. Doch er meisterte alle Aufgaben mit Bravour und landete am Ende tatsächlich an der berühmt-berüchtigten Kobelhöhle.
Erschöpft von der langen Reise hatte der Bergzwerg überhaupt gar keine Lust, nun schon wieder zu raten. Immerhin musste er noch das geheime Geheimwort knacken, um die Höhle betreten zu können. “Hach”, dachte er, “wenn ich doch jetzt nur bei meiner Oma wäre und ein Stück von ihrem berühmten Schlorzifladen essen könnte.” In dem Moment begann die Erde zu wackeln, tausend kleine Glöckchen begannen zu läuten und … das Höhlentor öffnete sich einen Spalt breit. Der kleine Bergzwerg konnte sein Glück kaum fassen. SCHLORZIFLADEN? DAS war das Geheimwort? Die Kobel-Hexe war ihm schon jetzt sympathisch. Er schlüpfte in die Höhle, musste noch dreimal links und 5 mal rechts abbiegen und dann stand er auch schon vor ihr: der berühmt-berüchtigten Kobel-Hexe. Irgendwie hatte er sie sich ganz anders vorgestellt. Sie hatte keine Hakennase und auch keinen krummen Rücken, keinen schwarzen Hut und keinen Besen unter dem Popo, stattdessen rosige Bäckchen mit kleinen Grübchen, eine weiße Schürze um den dicken Bauch gebunden und ein Nudelholz in der Hand. Der kleine Bergzwerg trug der Hexe sein Anliegen vor und sie antwortete grinsend:
“Ich helfe dir, aber nur unter einer Bedingung: Du besorgst mir das Schlorzifladen-Rezept von deiner Oma.” “Abgemacht.”, murmelte der Zwerg erleichtert.
“Okay, dann kommt hier das Heilmittel gegen Gewitter-Angst: 2 Schlückchen Rivella, 2 Gabeln Käsefondue und selbstverständlich 3 Stückchen Schlorzifladen.”
Der kleine Bergzwerg bedankte sich bei der Kobelhexe und seiner Lieblingsfarbe Rot und seinem Lieblingstier, dem Wal, und natürlich Heidi und dem Schlorzifladen seiner Oma. Glücklich hüpfend zog er von dannen, befolgte den Rat der Kobel-Hexe und kaum zu glauben, aber wahr, er hatte nie nie wieder Angst vor Gewitter.
1 Kommentar
Kerstin · 15. Juli 2017 um 14:48
Einfach nur bezaubernd dieses ” Bergmärchen”.
Kann mir den kleinen Mann auf seinem abenteuerlichen Weg so gut vorstellen und würde gerne wieder was von ihm lesen!